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Die authentische Lüge oder warum Authentizität auch falsch sein kann

Immer häufiger hört man in letzter Zeit Aussagen wie: „Er/sie ist so authentisch, das finde ich großartig“ oder „Du musst authentisch sein, wenn Du Erfolg haben willst!“ Interessanterweise wird Authentizität gerne in Zusammenhang mit Influencern oder Youtube-Stars verwendet. In einer Branche, in der offenbar jeder zum Star werden kann, scheint es so, als wäre dieses kaum aussprechbare Wort der Schlüssel zum Erfolg. Kaum jemand hat es noch nicht verwendet. Doch wissen wir eigentlich, was hinter diesem Wort steckt? Und könnte es nicht sogar sein, dass wir eigentlich nicht Authentizität sondern Ehrlichkeit meinen? Denn:

 

Authentizität wird mit „den Tatsachen entsprechend“, „echt“ und „glaubhaft“ beschrieben. Wenn wir diesen Erklärungen folgen, stellen sich sogleich die nächste Fragen: Was ist echt? Wodurch glauben wir jemandem? Und was wird von uns als Tatsache akzeptiert? Antworten darauf lassen sich in unterschiedlichsten Bereichen finden. Abhängig davon, welcher Theorie, Strömung oder Glaubensrichtung wir uns verbunden fühlen. Was allerdings auf jeden dieser Bereiche zutrifft: er ist subjektiv. Denn was wir glauben, gut finden oder als Erklärung akzeptieren ist unsere persönliche Sicht und damit nicht unbedingt auch die aller anderen. Das ist einer der wichtigsten Punkte, die es als Mensch zu verstehen gilt: meine Welt ist nicht die aller anderen. Philosophen, Psychologen, Soziologen, Biologen, Neurologen, Theologen und noch viele mehr sind bereits zu dieser Erkenntnis gekommen. Und trotzdem gibt es noch einen erheblichen Prozentsatz unter uns Menschen, der felsenfest davon überzeugt ist: so wie ich die Welt sehe ist sie! Nein, ist sie nicht. Um diese Tatsache zu akzeptieren, muss Mensch bereit sein, die eigene Meinung immer wieder in Frage zu stellen und sich selbst weniger wichtig zu nehmen. Natürlich ist es wichtig und richtig, eine eigene Meinung zu haben und diese auch zu vertreten. Allerdings besteht die wahre Kunst darin, eine Meinung zu haben und sich gleichzeitig immer darüber bewusst zu sein, dass irgendwann ein Ereignis eintreten könnte, das diese eigene Meinung widerlegt. Sich diesem Wechselspiel aus „Meinung gewinnen – Meinung haben – Meinung vertreten – Meinung in Frage stellen – Meinung überprüfen – Meinung behalten oder Meinung ändern“ immer und immer wieder auszuliefern, erfordert Kraft und Ausdauer. Die Haltung „Das ist so und damit basta“ ist dem gegenüber natürlich wesentlich praktischer, schneller und bedarf keiner großen Gehirnleistung. Auch wenn unser menschliches Gehirn prinzipiell dazu fähig wäre, scheint noch nicht jeder darüber informiert zu sein, dass diese Fähigkeit auch genutzt werden darf. Immer wieder werden aus den unterschiedlichsten Fachbereichen Versuche unternommen, diese Subjektivität der Realität der Allgemeinheit näher zu bringen. Einer dieser Versuche, der direkt bei unserem Selbst ansetzt und daher gut und einfach anwendbar ist, stammt aus der sozialen Rollen-Theorie.

 

Im Verständnis der sozialen Rollen-Theoretiker wie Mead und Goffman übernehmen wir als Mensch eine soziale Rolle, sobald wir auf einen anderen Menschen treffen. Im Moment einer Interaktion übernehmen wir eine Rolle, die zur Situation, unserem Gegenüber und seinen Erwartungen an uns passt. Zum Beispiel: Betrete ich einen Supermarkt, übernehme ich die Rolle des Kunden. Arbeite ich in diesem Supermarkt, der vom Kunden betreten wird, trifft die Rolle des Kunden auf mich in der Rolle des Verkäufers. Sowohl als Kunde wie auch als Verkäufer habe ich Erwartungen an mein Gegenüber. Der Kunde erwartet vom Verkäufer vielleicht ein freundliches Lächeln oder kompetente Beratung während der Verkäufer vom Kunden höchst wahrscheinlich erwartet, dass dieser für die Ware bezahlt. Diese Rollen-Theorie ist eine Sichtweise auf unser menschliches Miteinander, die viele Vorgänge logischer erscheinen lässt. Natürlich nur, wenn man sich mit dieser Idee anfreunden kann. Sie ist sicher nicht für jedermann/jederfrau passend. Jede/r soll und darf (s)eine eigene Meinung haben. Auch die totale Ablehnung dieser Sicht auf die Welt ist erlaubt. Wie gesagt: alles ist subjektiv – was ich sehe, was ich höre, was ich glaube, was ich akzeptiere und was ich ablehne. Meine Welt, meine Entscheidung.

 

Für eine persönliche Entscheidung, ob man einer Theorie/Idee folgen will/kann oder nicht, bietet der wissenschaftliche Ansatz eine spannende Herangehensweise: Er schlägt vor, so lange etwas als wahr zu akzeptieren, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Diese Vorgehensweise bietet volle Freiheit. Für meine eigenen Ideen aber auch für „alternative“ Ideen in die Richtung „Solange nicht bewiesen wurde, dass es keine Aliens gibt, gibt es sie!“, „Nur weil man etwas nicht sehen kann, bedeutet es nicht, dass es nicht existiert!“ oder mein persönliches Highlight: „Die größte Verschwörung ist die, die Euch einredet, es gäbe keine Verschwörung!“ Diese Aussage behauptet, dass etwas existiert, weil behauptet wird, dass es nicht existiert. Gegen diese Form von Argumentation ist man natürlich machtlos. Das mag durchaus eine der größten Schwachstellen dieses Ansatzes sein, aber so ist das nun mal im Reich des Glaubens. Auch wenn der Wissenschaft Berechnungen zu Grunde liegen, die vermeintliche Objektivität beweisen. Denn wie heißt es so schön: Zahlen lügen nicht. Das tun sie nicht. Allerdings etwas tun sie durchaus: eine Realität konstruieren, die nicht für jeden nachvollziehbar und verständlich ist. Es geht im Leben nicht darum, Realitäten zu widersprechen, sondern sie als eine Möglichkeit des Lebens in Betracht zu ziehen. Das heißt natürlich nicht, dass man an Aliens oder Verschwörungen glauben muss. Man muss gar nichts. Nicht alles, was an Ideen verbreitet wird, entspricht einer Wahrheit, die einer detaillierten Überprüfung stand hält. Vieles in unserem Leben ist nur eine Idee, Fantasie, Glaube oder Einbildung. Damit müssen wir leben. Sich permanent dagegen zu wehren, ist ein langwieriger Kampf gegen Windmühlen. Aber wer sagt, dass man sich dagegen zur Wehr setzen muss. Das Leben sollte kein Kampf sondern ein Fluss aus Überraschungen und Neuigkeiten sein, denen wir interessiert gegenüber stehen. Wenn wir es schaffen, Aussagen wie „Das ist doch Blödsinn was Du sagst!“ gegen „Aha, interessant, wie kommst Du zu dieser Idee/Sichtweise/Erkenntnis?“ zu tauschen, heben wir unser Miteinander auf eine vollkommen neue Stufe. Wir akzeptieren die andere Welt und begegnen ihr mit Offenheit, ohne unsere eigene Welt aufzugeben. Meines, Deines, Unseres. Womit wir auch bei der Kernaussage der Rollen-Theorie angelangt wären:

 

In der sozialen Rollen-Theorie gibt es jeden von uns im ICH. Wenn wir alleine und für uns selbst sind, sind wir ganz in unserer Welt. Ich bin in meiner Welt, Du bist in Deiner Welt. Sobald wir uns begegnen, verbinden sich die Welten zu unserer Welt, in der wir gemeinsam sind. In dieser gemeinsamen Welt begegnen wir uns nicht mehr als ICH sondern als ICH in einer Rolle, die zu dieser gemeinsamen Welt passt. Wir schaffen uns selbst in einer gemeinsamen Welt mit einem gegenüber. Wenn es gelingt, diese gemeinsame Welt zum Glück aller Beteiligten zu konstruieren, fühlen wir uns wohl, geborgen und verstanden. Aber ist diese Welt dann real? Für uns als Teil dieser gemeinsamen Welt ja. Für einen Außenstehenden nicht unbedingt. Denn tatsächlich sind wir, im Verständnis der Rollentheorie, in diesem Moment nicht wir selbst sondern wir selbst in einer echten, realen Rolle. Wir tun nicht so, als wären wir VerkäuferIn oder KundIn. Wir sind es. Wir täuschen nicht. Ja, wir empfinden uns in diesem Moment als „echt“ und „den Tatsachen entsprechend“.

 

Auf neuronaler Ebene betrachtet, definiert mein Gehirn etwas als authentisch, sobald Bild und Wahrnehmung übereinstimmen. Dabei verstehe ich unter einem „Bild“ all jene Ideen, Vorerfahrungen und Meinungen, die bereits zu einer Person oder einer Sache in meinem Gehirn existieren. Auf welchen Abschnitt ich für ein Bild zurück greife, ist von Situation zu Situation unterschiedlich. So kann es zum Beispiel passieren, dass ich jemanden als „Lehrer/In“ kennen lerne. Sobald ein Mensch „definiert“ wird, ruft mein Gehirn die prägnantesten Inhalte ab, die bereits zu dieser Definition gespeichert sind. Mein Gehirn hat in seinen Windungen also bereits ein Bild für eine/n LehrerIn kreiert, das sich aus meinen bisher gespeicherten Wahrnehmungen zusammen setzt: aus Gerüchen, körperlichen Empfindungen, visuellen Eindrücken, auditiven Inhalten (Geräusche, Stimmen) und den damit in Verbindung stehenden Emotionen. Aus diesen Wahrnehmungen und Vorerfahrungen hat sich mein Gehirn ein Bild gebastelt. Dieses individuelle Bild wird zusätzlich noch vom Bild ergänzt, das zu LehrerInnen in der jeweiligen Gesellschaft, in der wir uns bewegen, propagiert wird. Individuelles und gesellschaftliches Bild sorgen dafür, dass jeder von uns mindestens eine Antwort auf die Frage findet: Wie würden Sie eine/n typische/n LehrerIn beschreiben? Jeder von uns wird darauf seine eigene Antwort finden, die dann doch, wenn wir aus der gleichen Gesellschaft kommen, anderen Antworten ähnlich sein wird. Ob sich für eine Antwort unser individuelles Bild oder das gesellschaftliche Bild durchsetzt, ist sehr stark davon abhängig, wer uns diese Frage stellt. Ich kann z.B. ein absolut positives Bild von LehrerInnen haben. Aktuell wird allerdings in der Gesellschaft  durch gewisse Umstände das Bild propagiert, LehrerInnen würden zu viel verdienen und zu wenig arbeiten. Je stärker diese Meinung in der Gesellschaft vertreten ist, umso stärker werde ich auch meine eigene Meinung in Frage stellen.

 

Besonders dann, wenn ich mit anderen in der Gesellschaft nicht in Konflikt geraten möchte. Steht mir jemand gegenüber, der ebenfalls ein positives Bild zu LehrerInnen hat, werde ich ihm gegenüber mit Stolz meine individuelle Meinung vertreten. Vertritt jemand das aktuell gesellschaftliche Bild und ist mir gegenüber dazu auch noch sozial höher gestellt, wird es für mich immer schwieriger, mein persönliches Bild zu verteidigen. Gerne wählen wir in solchen Situationen den Weg des geringsten Widerstandes. Lieber ein bisschen nachgeben, schließlich machen Gemeinsamkeiten sympathischer und wer weiß, wozu uns diese Sympathie irgendwann nutzen könnte. Dieses Denken ist menschlich, ganz normal und vollkommen nachvollziehbar. Wir Menschen sind Gesellschaftstiere. Wir brauchen Freunde, Familie und Verbündete, mit denen wir gemeinsame Bilder teilen. Menschen, die uns verstehen, die wir verstehen und mit denen wir „auf einer Wellenlänge“ sind. Die mit uns die gemeinsame Welt erschaffen. Wir sind gemeinsam in einer Welt, in der vielleicht Aliens existieren, die von Gott, Buddha, Jahwe oder Moses geleitet wird, in der Staatsmänner Verschwörungen initiieren, in der wir Katzenvideos teilen und uns über Kochrezepte austauschen. In dieser Welt sind wir gemeinsam. Und je mehr unsere Welt teilen, umso wichtiger, richtiger und echter empfinden wir uns. 10.000 FreundInnen auf Facebook und 1,5 Millionen Follower auf Instagram beweisen, wie echt ich bin. Obwohl jeder auf Facebook, Instagram und Youtube selbst entscheidet, welches Bild er von sich kreieren will. Wir entscheiden selbst, welche Bilder wir von uns posten, welche Meinungen wir teilen und welche Freunde wir liken. Wenn wir dann auch noch einer Gruppe angehören, die im Moment gesellschaftlich total gehypt wird, ist der Weg zur Authentizität nicht mehr weit.

 


 

Nehmen wir für ein Beispiel noch einmal die Berufs-Rolle „LehrerIn“ zur Hand: Angenommen wir befänden uns in einer Zeit, in der LehrerInnen für ihre Tätigkeit gesellschaftlich ausgesprochen anerkannt wären. Möglicherweise bedingt durch eine Krise, durch die Eltern plötzlich gezwungen wären, den Unterricht ihrer Kinder selbst in die Hand zu nehmen. Eine Krise, die Eltern erkennen ließe, wie anstrengend und herausfordernd es sein kann, ihren Kindern etwas bei zu bringen. Statt Vorwürfen gäbe es plötzlich Dank und Begeisterung. Dann wäre es nicht mehr typisch LehrerIn, immer alles besser zu wissen, viel zu verdienen und wenig zu arbeiten oder in der Erziehung der SchülerInnen komplett zu versagen. Dann wäre es plötzlich typisch Lehrerin, die Eltern bei der Erziehung zu unterstützen und den SchülerInnen in ihrer (Aus-)Bildung helfend zur Seite zu stehen. Den LehrerInnen würden viel eher Eigenschaften wie freundlich, hilfsbereit, kompetent und verständnisvoll zugeschrieben werden. Würde in so einer Zeit ein/e LehrerIn ein Online-Tutorial posten, in dem wir ihn/sie in Körperlichkeit, Präsenz, Mimik und Gestik als freundlich, hilfsbereit, kompetent und verständnisvoll wahrnehmen, sind wir begeistert von so viel Authentizität.

 

Auffallend dabei ist, dass mit Authentizität ausschließlich positive Eigenschaften verbunden werden. Obwohl es durchaus Menschen gibt, die mit ihren negativen Eigenschaften den Tatsachen entsprechen, echt und glaubhaft sind. Wenn ein zorniger Mensch brüllt und einen anderen beschimpft, weil er sich ungerecht behandelt fühlt, dann ist auch dieser Mensch in dieser Situation authentisch. Begeistert sind wir davon allerdings nicht. Da sagt niemand „Ich finde das toll, wie echt und authentisch dieser Mensch ist!“ Nein, diese Form der Authentizität wollen wir nicht. Das fühlt sich irgendwie falsch an. Authentizität muss gut sein und allein darin liegt schon der Fehler. Ich habe bisher keine Erklärung zu „Authentizität“ gefunden, die beinhalten würde, dass es sich dabei ausschließlich um etwas Positives handelt. Selbst in psychologischen Definitionen, in denen Authentizität beschrieben wird als „mit sich selbst eins sein“ oder „von einer persönlichen Aura umgeben sein“, fand sich kein Hinweis, ob es sich dabei um etwas Gutes oder etwas Böses/Schlechtes handelt. Ich kann mit mir selbst durchaus eins sein und andere Menschen aus tiefster Überzeugung schlecht behandeln. Weil es die anderen so verdienen. Sie sind selber schuld daran, dass sie von mir angebrüllt und geschlagen werden. Oder dass ich sie mit Gehirnwäsche auf meine Seite ziehe, weil ich die Wahrheit gefunden habe. Ich muss sie retten und meine Aura des „Heilbringers und Erlösers“ hilft mir dabei. Sie müssen mir nur glauben.

 

Wie aber schaffe ich es, dass mir mein Gefolge, meine Follower, glauben? Indem ich ihre Erwartungen erfülle und in das Bild passe, das sie zu mir bzw. meiner sozialen Rolle haben. Damit werde ich authentisch und durch die Krone der Authentizität zum guten Mensch gekrönt. Das bedeutet aber nicht, dass ich es auch tatsächlich gut mit ihnen meinen muss. Ich muss nicht das sein, was andere glauben, dass ich bin. Je besser ich aber darin bin, dem Bild zu entsprechen und mich mit dem Heiligenschein der Authentizität zu umgeben, umso positiver werde ich wahrgenommen. Der Kern der Authentizität besteht alleine darin zu wissen, welche Erwartungen zur sozialen Rolle existieren und wie diese erfüllt werden können. Manche Menschen entdeckten diesen Kern ganz von allein. Sie sind diejenigen, die jeder als authentisch empfindet, ganz egal was sie machen. Authentische Naturtalente sozusagen. Andere hingegen müssen sich diese Authentizität in ihrer Rolle erst hart erarbeiten.

 

Wenn jemand z.B. auf Youtube als „AutoschrauberIn“ berühmt werden möchte, besteht ihre/seine Hauptaufgabe darin, das positive Bild bzw. die positive Rolle des „Autoschraubers“ zu perfektionieren. Wenn er/sie großes Glück hat, entspricht er/sie von Aussehen, Fähigkeiten und Artigkeit bereits dem vorherrschenden Bild. Wenn nicht, muss er/sie sich erst einmal mit dieser Rolle auseinandersetzen: Welche Erwartungen gibt es an eine/n AutoschrauberIn? Wie wir diese Rolle in der Gesellschaft gesehen? Mit welchen (positiven) Eigenschaften wird die Rolle in Verbindung gebracht? Basierend auf diesen und weiteren Informationen könnte ein Rollen-Profil für das Model „Authentische/r AutoschrauberIn“ wie folgt aussehen: Autonarr, liebt das Besondere an Autos, ist etwas rauher im Umgangston aber sympathischer, beeindruckt durch seinen sportlich muskulösen Körperbau, riecht nach Motoröl, ist selbstbewusst und hat auch oft einen flotten Spruch auf den Lippen. Und das andere Geschlecht ist ihm/ihr nicht abgeneigt. So wollen wir die Rolle des Autoschraubers, vielleicht. Oder auch ganz anders? Finden wir dann auf Youtube ein Video, das unserem Bild, unserer Welt, unseren Erwartungen zu dieser Rolle entspricht, rufen wir begeistert: „Wie toll – das ist so authentisch!“ Was wir nicht sehen wollen ist, wie es diese/r „AutoschrauberIn“ erst nach dem 20. Dreh-Versuch schafft, das Stottern und die eigenen Nervosität in den Griff zu bekommen. Nein, das wollen wir nicht, weil das nicht in unser Bild passt. Das wäre auch überhaupt nicht authentisch!

 

Tatsächlich den Tatsachen entsprechend, echt und glaubhaft wäre dieser Mensch allerdings erst, wenn er alles von sich zeigen würde. Seine Stärken und Schwächen. Seine Muskeln und sein Stottern. Aber nicht in seiner Rolle, denn diese ist orientiert am Ziel, Erwartungen zu erfüllen. Trotzdem kann ein Mensch in seiner Rolle authentisch wirken. Je besser er die Rolle ausfüllt, umso authentischer empfinden wir ihn. Das bedeutet aber nicht, dass ich tatsächlich über diesen Menschen sagen kann, dass er authentisch ist. Wen kenne ich schon tatsächlich? Also so wirklich? Wir sind schnell versucht zu glauben, dass das, was wir von einem Menschen sehen, der Realität entspricht. Dass es sich um eine Tatsache handelt. Besonders dann, wenn unser Gegenüber uns sogar an seinen Schwächen teilhaben lässt. Wenn ein gefeierter Fernsehstar plötzlich vor laufender Kamera zusammenbricht und uns sein dunkelstes Geheimnis offenbart, können wir diese Authentizität und Ehrlichkeit kaum fassen. Unsere Euphorie darüber, dass wir endlich sehen dürfen, wie dieser Mensch tatsächlich ist, lässt uns übersehen, dass es sich bei diesem vermeintlich dunkelsten Geheimnis nur um eine Lapalie handelt. Depression, Magersucht und Mobbing sind „Geheimnisse“, mit denen ein hoher Prozentsatz in der Gesellschaft lebt und verzweifelt damit versucht zu überleben. Würde Anna P., Sozialhilfeempfängerin aus dem Gemeindebau, auf Youtube ein Video posten, in dem sie über ihre Depression und Magersucht erzählt, hätten wir im besten Fall schon ein bisschen Mitleid. Aber dass wir sie für dieses Video bewundern würden und vor ihrer Authentizität auf die Knie gehen, würde uns dann doch nicht in den Sinn kommen. Vielmehr würde uns dieses lächerliche Video dazu animieren, noch hämische Kommentare unter dem Video zu posten. Schließlich ist diese Asoziale selber schuld daran. Hätte sie das Video halt nicht gepostet. Aber dieser Fernsehstar. Wirklich großartig, wie offen er über seine Schwäche spricht.

 

Kommt dann allerdings das wahre Gesicht ans Licht und unser Star wird als Pädophiler entlarvt, trifft uns diese Realität wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Das passt nicht in unser Bild vom ehrlichen, echten Star, der seine Schwächen überwindet, sich immer wieder aufrafft, stark und unser Vorbild ist. Wie ein Häufchen Elend sitzt er auf der Anklagebank im Gericht. Kein Mitleid mit den Opfern. Er verbirgt nichts mehr. Das ist der authentische Mensch. Durchaus böse, gewaltbereit und von Dämonen gejagt. So viel Ehrlichkeit wollen wir aber gar nicht. Nur in den seltensten Fällen wollen wir sehen, wer der Mensch hinter der Rolle ist. Denn ein Mensch ist immer allein, ohne Gesellschaft, nur auf sich gestellt. Der Mensch muss keine Erwartungen erfüllen, keine Rücksicht nehmen, denn es gibt niemanden außer ihm. Ob er sich von Beeren ernährt oder ein Tier tötet, den Bart rasiert oder sich im Schlamm wälzt. Das Verhalten eines einzelnen Menschen ist ohne gesellschaftliches Korrektiv nur schwer vorhersehbar. Authentizität ist in diesem Zusammenhang ein Wort, das zu dieser Realität nicht passt. Unser Bild von Authentizität ist immer mit der Rolle verbunden, in der uns jemand begegnet.

 

Diese Erklärung soll auf etwas aufmerksam machen: Authentizität ist keine Eigenschaft, die jemand hat, sondern eine Wahrnehmung von uns. Wir nehmen eine Person in ihrer Rolle als authentisch war, wenn ihr Verhalten und ihre Handlungen unseren Erwartungen entsprechen, die wir an diese Rolle haben. Eine Youtuberin, die sich als liebenswürdige Tortenbäckerin präsentiert, wird uns begeistern, wenn wir unzählige Videos von ihr anschauen können, in denen sie freundlich und adrett gekleidet eine Torte nach der nächsten bäckt. Unser Chef in der Werbefirma wird bewundert für seine Authentizität, mit der er jeden Tag gut gelaunt im bunten T-Shirt auf seinem E-Scooter durch die Firmenzentrale düst. Schließlich darf man das auch von den Rollen erwarten. Wir erwarten, dass die Tortenbäckerin Torten bäckt und in einer Werbefirma bunte T-Shirts getragen werden. Wir erwarten, dass der Business-Punk als Punk gekleidet in Talk-Shows sitzt und wir erwarten, dass die Queen des Teleshoppings täglich mehrere Stunden ihre Kosmetiklinie verkauft und diese selbstverständlich auch selbst verwendet. Wird uns dieses Bild dann auch noch wirksam und glaubhaft präsentiert, gibt es keinen Zweifel mehr an der Authentizität.

 

An der Authentizität dieser Rollen mag es keinen Zweifel geben, an den Menschen dahinter vielleicht schon. Diese Menschen sind authentisch in ihren Rollen. Sie wissen, was von ihrem Publikum und von ihren Mitmenschen erwartet wird. Diesen Erwartungen passen sie sich an – sowohl in ihrem Verhalten, wie in ihrem Aussehen und ihren Handlungen. Mehr wollen wir als Publikum auch gar nicht. Und dafür sind wir sogar bereit, alles andere auszublenden. Es interessiert uns nicht wirklich, ob diese Menschen tatsächlich ehrlich zu uns sind. Authentizität bedeutet nicht Ehrlichkeit. Es muss nur glaubhaft sein und echt wirken. Wir dürfen nie das Gefühl bekommen, man würde uns täuschen. Wäre die Tortenbäckerin ehrlich, müsste sie zugeben, dass sie schon lange keine Torten mehr isst. Wäre der Chef der Werbefirma ehrlich damit, wie es ihm geht, würde man sein breites Grinsen nur mehr an Feiertagen sehen. Der Business-Punkt bräuchte sein Luxus-Auto und die teuren Hotel-Suiten nicht mehr verheimlichen und die Queen des Teleshoppings würde sich filmen lassen, wie sie nach Drehschluss verzweifelt versucht, ihre eigenen Kosmetikprodukte von der Haut zu entfernen.

 

Natürlich dürfen wir weiterhin von der Authentizität unserer Mitmenschen begeistert sein. Wir dürfen sie bewundern und beneiden. Wir dürfen sie nur eines nicht: Als authentisch bezeichnen. Das ist falsch, denn die Menschen selbst sind nicht authentisch. Sie sind authentisch in ihren Rollen, durch die sie unsere Erwartungen erfüllen. Authentizität ist allein durch das Erfüllen der Erwartungen gegeben. Meine Erwartungen sind erfüllt, Bild und Wahrnehmung stimmen überein und eine authentische Rolle steht mir gegenüber. Eine authentische, aber keine ehrliche. Authentizität ist ein Trugbild, eine Lüge. Dadurch, dass etwas unsere Erwartungen erfüllt, gehen wir davon aus, dass es stimmt.

 

Dass es unserer Realität, unserem Glauben entspricht. Dass es ehrlich ist. Meine Realität allerdings ist, dass Authentizität nicht ehrlich ist. Ein Mensch kann in seiner Rolle authentisch und trotzdem nicht ehrlich sein. Ein ehrlicher Mensch weiß das und ist sich dieser Täuschung bewusst. Ehrlichkeit bedeutet Wahrhaftigkeit. Ehrlichkeit beinhaltet per Definition eine Wahrheit, der ich selbst voll und ganz glaube. Meine Wahrheit, meine Realität, meine Wahrnehmung und mein Glaube. Indem ich meine Wahrheit meinen Mitmenschen erkläre, ihnen meine Sicht der Welt verständlich zu machen versuche, werde ich ehrlicher. Dabei darf es allerdings nie mein Ziel sein, meine Mitmenschen von meiner Wahrheit zu überzeugen. Nur wenn ich jedem die absolute Freiheit und das Recht eingestehe, sich seine eigene Wahrheit zu bewahren, bin ich mit diesem Mensch ehrlich. Natürlich dürfen wir unsere Wahrheiten teilen und sie für gut befinden. Wir dürfen sie auch übernehmen, wenn sie unsere Welt bereichern. Nur so schaffen wir die Ehrlichkeit, die wir durch Authentizität gerne hätten, aber nie erreichen.

 

(c) Karin Krawczynski, Juni 2020